Verbunden durch Musik

Verbunden durch Musik

Wie Yulianna Avdeeva am Klavier Menschen zusammenbringt.

Ein Portrait von Lisa Schön

Als international anerkannte Konzertpianistin tourt Yulianna Avdeeva um die Welt. Die Liste der Orchester, mit denen sie kollaboriert, ist lang – ebenso ist sie in kammermusikalischen Besetzungen aktiv. Ihre Arbeit wurde in mehreren Soloalben festgehalten. Gleichzeitig hat sie sich zum Ziel gesetzt, ihre Begeisterung für die Musik nicht nur auf der Bühne zu teilen. Sie begleitet ihren künstlerischen Schaffensprozess in den sozialen Medien, kommuniziert dort mit ihrem Publikum, sie macht sich Gedanken über die Wirkung ihrer Musik und setzt sie in einen grösseren, politischen Kontext.

Im Dezember kommt Yulianna Avdeeva nach Winterthur, um die Rhapsodie über ein Thema von Paganini von Sergei Rachmaninoff zu spielen. Die Paganini-Variationen hat Yulianna Avdeeva bereits 2008 im Abschlusskonzert für das Solistendiplom mit dem Musikkollegium Winterthur gespielt, nun, 16 Jahre später, bringt sie das Stück an den Ort zurück, an dem sie es zum ersten Mal aufgeführt hat. Durch ihre Studienzeit
in der Klasse von Prof. Konstantin Scherbakov an der Zürcher Hochschule der Künste hat sie auch zu Winterthur eine enge Bindung, die Stadt steht für sie, wie sie sagt, für ihre schönen Studienjahre.

Für Yulianna Avdeeva ist Rachmaninoff der «beste Komponist und Pianist aller Zeiten». Die grosse Faszination für Rachmaninoff begleitet sie schon seit ihren Jugendjahren – sie selbst wollte die Paganini-Variationen unbedingt für ihr Diplomkonzert spielen. Inzwischen hat sie das Werk auf verschiedenen Bühnen der Welt zur Aufführung gebracht. «Für mich ist das Stück einmalig, weil es relativ kurz ist, aber alles beinhaltet, was man sich als Musikerin wünschen kann. Es ist kompositorisch ein absolutes Meisterwerk.»

Die Paganini-Variationen basieren auf zwei musikalischen Themen. Das erste Thema stammt aus dem letzten der 24 Capricci für Solovioline von Niccolò Paganini. Avdeeva beschreibt, wie die Leichtigkeit des ersten Themas mit dem zweiten Thema, dem Dies Irae als Bestandteil der lateinischen Totenmesse, kontrastiert wird. Das Dies Irae wurde von Rachmaninoff auch in vielen anderen Stücken verwendet. In den Paganini-Variationen führt er sie zusammen. Ausserdem, sagt Avdeeva, hört man die amerikanischen Einflüsse bei Rachmaninoff durch den scharfen Blech-Klang im Orchester: «Jedes Mal, wenn ich das Stück spiele, ist es für mich eine besondere Freude.» Ihr Arbeitsprozess mit dem Stück ist ein ganzheitlicher, dabei ist es ihr wichtig, auch die Orchesterstimmen gut zu kennen, um mit dem Stück wachsen zu können. 16 Jahre nach der ersten Aufführung des Stücks sagt Avdeeva: «Ich habe viel Erfahrung mit dem Stück gewonnen, es hat sich musikalisch und klanglich weiterentwickelt.»

Musik vermitteln über die Sozialen Medien

Neben ihrer Tätigkeit als Konzertpianistin pflegt Yulianna Avdeeva einen vielfach rezipierten Auftritt in den sozialen Medien. Ihr Instagram-Profil beinhaltet Tourdaten und Konzertausschnitte, sie begleitet aber auch ihren musikalischen Prozess, indem sie etwa in einem Video beschreibt, in welchen Schritten sie sich ein neues Stück erarbeitet. Den Anstoss, in den sozialen Medien aktiv zu werden, erhält Avdeeva bei ihrem letzten Konzert vor dem Corona-Lockdown 2020. Zusammen mit den Musiker:innen des Pittsburgh Symphony Orchestra spielt sie ein kammermusikalisches Werk des Komponisten Mieczysław Weinberg. Kurz vor Konzertbeginn wird sie spontan gebeten, etwas zur Musik zu sagen, und so erzählt sie über Weinbergs Leben und sein künstlerisches Schaffen. Nach dem Konzert sprechen sie Menschen aus dem Publikum an. Die Ansprache habe ihnen die Angst genommen, die Musik nicht zu verstehen. Es sei für sie leichter geworden, sich etwas unter der Musik vorzustellen.

Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie beschreibt sich Yulianna Avdeeva als Social-Media-scheu, doch als nicht mehr klar ist, wie Musiker:innen mit dem Publikum in Austausch bleiben können, ruft sie das #AvdeevaBachProject ins Leben und sendet während des Lockdowns jeden Donnerstag zuerst auf Facebook, dann auch auf YouTube Live-Videos. Dabei bespricht sie das gesamte Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach. Über eine halbe Million Mal werden ihre Beiträge aufgerufen. «Überall, wo ich jetzt Konzerte gebe, kommt mindestens eine Person und sagt, dass sie meine Streams in der Pandemie angesehen hat», sagt sie heute.

Seit Oktober 2023 gibt es nun das neue Format #YuliannasMusicalDialogues. Für die vorproduzierten Videoausschnitte suchen die Follower:innen den oder die Komponist:in des Monats aus. Yulianna Avdeeva teilt dann inhaltliche Details zu bestimmten Stücken oder zeigt Spielpraktiken: «Das Ziel ist, Menschen für Musik zu begeistern. Das ist unabhängig von dem Level, auf dem die Leute spielen. Wenn ich sie positiv anstecken kann, ist das das Allerschönste.» Es geht ihr nicht darum, Fakten zusammenzufassen. Sie gibt ihre persönliche Sicht auf die Stücke, damit Menschen die Musik besser verstehen.

Auch nach dem Ende der Pandemie sind ihre Kontakte in den sozialen Medien erhalten geblieben. «Ich bin sehr dankbar für meine Community, die seit der Pandemie sehr aktiv mit mir auf Instagram kommuniziert», sagt sie. «Das ist meine Chance, die Leute, die zu meinen Konzerten kommen, besser kennenzulernen. Ich erfahre, was ihnen gefällt und was nicht, was sie interessiert, was sie lesen.» Dabei bekommt sie auch konkrete Rückfragen zur Klavierpraxis: Junge Pianist:innen fragen nach Übetechniken, Fingersätzen oder was Avdeeva gegen Bühnenangst empfiehlt. Auch Avdeeva selbst holt sich viele Inspirationen und Ideen aus den Kommentaren. Viele Follower:innen kennt sie inzwischen persönlich, die jetzt regelmässig zu ihren Konzerten kommen. Sie hat es geschafft, auch nach der Pandemie eine Brücke zwischen der digitalen und der analogen Welt zu schlagen.

Musik in Zeiten von Krieg und Krisen

Als Musikerin sieht sich Yulianna Avdeeva auch als politische Person. Ihr zuletzt erschienenes Album Resilience entsteht als Reaktion auf die Corona-Pandemie. «Die Pandemieerfahrung war für mich absolut beispiellos», erzählt sie. «Das Leben, wie es mir vertraut war, war von einem auf den anderen Tag anders. Die Zukunft war nicht mehr vorherzusehen. Ausserdem hat die Pandemie die Gesellschaft auseinandergetrieben. Natürlich habe ich versucht, in der Musik Antworten zu finden.»

Im Herbst 2020 bekommt sie einen Anruf der Familie des polnischen Pianisten und Komponisten Władysław Szpilman. Sie wird angefragt, auf dessen Hausflügel ein Konzert zu spielen: «Das war eine faszinierende Möglichkeit, auch seiner Persönlichkeit nahe zu kommen. Flügel sind wie Elefanten, die vergessen nie, was man ihnen anvertraut.» Szpilmans Suite «The Life of the Machines» wird Teil von Resilience, genauso wie eine Mazurka, die er im Warschauer Ghetto geschrieben hat. Dazu kommen Stücke von Dmitri Schostakowitsch, Sergej Prokofieff und Mieczysław Weinberg – die alle von Kriegen und oder politischen Krisen betroffen waren. Das Ziel des Albums ist es, Stücke von Komponist:innen zusammenzubringen, die sie in schwierigen Situationen in ihrem Leben komponiert haben.

Als das Album erscheint, hat sich die Welt weitergedreht, zur Pandemie ist der Krieg in der Ukraine hinzugekommen. Yulianna Avdeeva positioniert sich politisch und beteiligt sich an Benefizveranstaltungen für die Ukraine, etwa mit Anne-Sophie Mutter beim Lucerne Chamber Music Festival. Darüber hinaus spielt sie seit diesem Jahr vermehrt Stücke des ukrainischen Komponisten Walentyn Sylwestrow. «Meine Sprache ist die Musik», sagt sie. «Hier sehe ich meine Mission. Ich möchte durch Musik Verbindung zu schaffen. Der Moment, in dem man im gleichen Raum Musik miteinander teilt, bringt Menschen enger zusammen.»

Natürlich habe sie sich gefragt, «ob es wie eine Vorahnung war, ob die Pandemie auch begünstigt hat, dass Menschen nun noch schwerer zueinander finden». Aber «als der Krieg in der Ukraine begann, konnte ich keinen Ton spielen», sagt Avdeeva. «Ich war leer. Aber gleichzeitig ist Musik auch das einzige, womit ich mich wieder aufrichten kann. Musik hat eine heilende Wirkung. Ich kann mit ihr Emotionen präziser auszudrücken als mit Sprache.» Yulianna Avdeeva findet in der Musik einen Ort der Freude, des Trostes und der Zuversicht. Dieses Gefühl überträgt sie auf ihr Publikum und beweist, dass die Vermittlung ihrer Musik weit mehr bedeutet, als ein mitreissendes Konzert zu spielen. Sie nimmt die Inspiration aus der Musik auf, um andere zu inspirieren und gibt anderen Halt, weil die Musik ihre Stütze ist – ihr Wunsch, Menschen zusammenzubringen, geht auf.

 

Vorschau

MI 11. / DO 12. DEZ 2024 – 19.30 UHR
YULIANNA AVDEEVA spielt Rachmaninoff

Musikkollegium Winterthur
Roberto González-Monjas Leitung
Yulianna Avdeeva Klavier

Wolfgang Amadeus Mozart Adagio und Fuge c-Moll
Sergej Rachmaninoff «Paganini-Variationen»
Edward Elgar «Enigma-Variationen»

https://www.instagram.com/yulianna.avdeeva/