Von Chaos und Trostliedern
Jean-Guihen Queyras über sein Programm in Winterthur, aufgezeichnet von Hannah Schmidt
Bachs Cello-Suiten sind, jede für sich, ein Eintauchen in verschiedene seelische Zustände und Stimmungen und werden dadurch zu einer Art Reise. Wenn man nicht den gesamten Zyklus spielt, stellt sich also immer die Frage: Auf welche Etappen möchte man das Publikum mitnehmen, um ihnen möglichst viel zeigen zu können?
Für dieses Konzert habe ich also die ersten drei und die fünfte Suite ausgewählt. Die erste Suite ist für mich ein Stück über die Natur: Die Tonart, G-Dur, die Harmonien machen sie zu einer sehr weichen Suite. Die kürzeren Sätze führen uns langsam ein in die Welt des Cellos und führen uns vor, was das Cello als Harmonieinstrument bieten kann. Die zweite Suite ist durch ihre Molltonart und auch die Prelude mit ihrem Sarabandenrhythmus und die herzergreifende Sarabande für mich eine menschlichere, eine persönlichere Suite, die uns nach innen gucken lässt, zu unseren Zweifeln, unseren inneren Kämpfen und Herausforderungen.
Demgegenüber verkörpert die dritte Suite für mich die menschliche Lebensfreude. Alles an dieser Suite ist sehr positiv, und lässt uns trotzdem innehalten: Man möchte erst einmal die einzelnen Elemente wahrnehmen, verstehen, wo sind wir eigentlich? Hier sehen wir den Menschen und wie er seine Freude durch das Tanzen, Komponieren und Singen zum Ausdruck bringt.
Die fünfte Suite hat einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen, weshalb ich sie unbedingt als Höhepunkt des Programms spielen wollte. Sie ist die dramatischste von allen. Bach beginnt mit punktierten Rhythmen und Verzierungen im Stil einer «Suite à la Francaise» und generiert unglaublich viel Energie, die regelrecht vulkanartig ausbricht. Die Fuge in der fünften Suite ist die einzige von Bach für Solo-Cello, zwar bescheiden, wenn man sie vergleicht mit den grossen Fugen für Klavier oder Geige, aber wir Cellist:innen lieben sie. Die Energie, die Bach schon im ersten Satz entstehen lässt, kulminiert in der sehr kurzen, gerafften und energischen Courante, die ganz in die Tiefen des Cellos geht. Bach möchte, das merkt man, Chaos organisieren, als würde diese Energie unkontrolliert und chaotisch hervorsprudeln. Nach diesem Ausbruch kommt eine ätherische Sarabande und eine, wie ich finde, unglaublich rührende Gavotte, wo wir zur Ruhe kommen nach diesem Chaos. Die Gavotte und die Gigue sind wie Trostlieder für mich, da ist nichts mehr übrig von dieser Dorftanz-Atmosphäre aus der dritten Suite – wir sind in c-Moll und Es-Dur, und es wird fast schon nostalgisch. Wir erleben in dieser Suite ganz verschiedene Arten des c- Moll – ein konfliktgeladenes, ein ätherisches und ein liebevoll-tröstendes.
Mir ist extrem wichtig, in meiner Interpretation wirklich durch alle Informationen zu gehen, die im Notentext zu finden sind, und zusammen mit dem Publikum einzutauchen in die Wirkung der verschiedenen Werkzeuge, mit denen Bach arbeitet – allen voran die verschiedenen Tänze und die Variationen, die er in ihnen zelebriert. Ich versuche, alles in dieser Musik zu 150 Prozent zu erleben und dafür zu sorgen, dass es zum Leben erwacht – damit das Publikum es hoffentlich auch so erlebt wie ich.