Sir András Schiff im Interview

Sir András Schiff im Interview

Der ungarische Pianist Sir András Schiff ist im Dezember 2023 70 Jahre alt geworden. Er erzählt, warum er seine Soloprogramme nicht im Voraus bekannt gibt und wie er sein Repertoire langsam reduziert. «Man gelangt nie an einen Endpunkt, sondern immer nur tiefer in die Musik hinein.»
Sir András Schiff im Gespräch mit Martina Hunziker
Dieses Interview erschien am 2. Dezember 2023 im «Der Bund» anlässlich seines damals bevorstehenden 70. Geburtstags.

Helló Sir András Schiff, Sie haben es zu Ihrem Merkmal gemacht, das Programm Ihrer Solokonzerte jeweils erst kurzfristig anzusagen. Warum?

Die Idee kam mir in der Pandemiezeit. Ich dachte viel über den Konzertbetrieb nach. Das alles ist sehr steif geworden, eine Reihe von Ritualen: Das Publikum weiss, welche Werke es erwarten kann, und mit der Unzahl von verfügbaren Aufnahmen weiss es auch, wie es klingen wird. Die Programmhefte sind ja schön und gut, aber dann sehe ich Leute in der ersten Reihe sitzen, die während des Konzerts darin blättern, anstatt zuzuhören. Mit meinen spontanen Konzerten schalte ich all diese Faktoren aus. Wer mich kennt, kann sich aber natürlich denken, dass es viel von Bach, Mozart und Beethoven zu hören geben wird. Wenn ich plötzlich Liszt spielen würde, wäre das eine grosse Überraschung für alle.

Warum?

Franz Liszt ist ein epochaler Komponist und vielleicht der grösste Pianist aller Zeiten. Aber seine Musik liegt mir nicht, und ich mag sie auch nicht besonders. Das Schöne als Pianist ist ja, dass man wählerisch sein kann und muss. Schliesslich haben wir eine enorm grosse Literatur.

Sie wollen also das Publikum erziehen.

Ja. Erziehen im guten Sinne – ich möchte niemanden unterrichten. Denn im Publikum sitzen viele Leute, die die Werke mindestens ebenso gut kennen wie ich. Aber es gibt auch immer solche, die weniger darüber wissen. Wenn ich ein Programm einführe, muss ich also einen Weg finden, zu allen zu sprechen.

Wie spontan programmieren Sie wirklich? Ein paar Tage, ein paar Stunden vor dem Konzert?

Es kommt oft vor, dass ich erst am Tag des Konzerts festlege, was ich spielen werde. Das hängt stark auch von der Akustik im Saal und vom Instrument ab. Und natürlich muss das Programm ein Format, ein Narrativ haben. Die Stücke hängen thematisch oder musikhistorisch zusammen. Und da kommt die Erziehung ins Spiel. Musik spielt eine immer kleinere Rolle, zu Hause, in der Schule. Aber Musik ist nicht nur dafür da, sich zurückzulehnen und zuzuhören. Da gehört ein bisschen mehr dazu. Und das will ich vermitteln. Bach, Mozart, Beethoven –

Sie kennen sämtliche Sonaten, Klavierkonzerte, Solowerke dieser Komponisten in- und auswendig. Wie bleiben die Werke interessant?

Die Arbeit mit der Musik dieser grossen Komponisten ist ein Work in Progress. Man gelangt nie an einen Endpunkt, sondern immer nur tiefer in die Musik hinein.

Lernen Sie noch neues Repertoire?

Ich bin mit einem sehr guten Gedächtnis gesegnet, aber auch mein Gehirn hat seine Kapazitätsgrenzen. Die Werke, die ich gelernt habe, möchte ich nicht vergessen. Deshalb reduziere ich mittlerweile mein Repertoire. Ich habe die 32 Beethoven-Sonaten bestimmt 30-mal zyklisch gespielt. Und das ist genug. Ich wähle jetzt jene Hälfte der Sonaten aus, die ich mehr liebe als die andere. Das Gleiche bei Schubert: Ich spiele nur noch eine Handvoll seiner Sonaten. Ich konzentriere mich gezielt auf Werke. Ausser bei Johann Sebastian Bach, von ihm spiele ich immer noch alles. Mit Bach habe ich tatsächlich noch eine letzte grosse Erweiterung meines Repertoires vor: «Die Kunst der Fuge» spiele ich im Januar erstmals im Konzert.

Sie haben in einem Interview mal erzählt, dass Sie jeden Tag mit einer Stunde Bach beginnen. Ist das immer noch Ihre Routine?

Ja, jeden Tag. Heute habe ich stundenlang nur Bach gespielt. Meist beginne ich morgens zu Hause auf dem Clavichord, darauf klingen kleinere Stücke, Inventionen, Präludien, besonders schön.

Was macht die Musik von Bach für Sie so besonders?

Ich bin kein religiöser Mensch – aber Bach ist eine Religion. Was mich an seiner Musik berührt, ist diese Kombination von Glaube als geistige Erfüllung, einer beispiellosen intellektuellen Meisterschaft und einer unglaublichen Bescheidenheit. Bachs Selbstbild war fern von Egoismus, nach ihm gab es keinen mehr, der so selbstlos arbeitete. Er schrieb für die damalige Gemeinde. Weil er wusste, dass Gott ihm das Talent gegeben hat und es seine Pflicht war, daraus das Beste zu machen.

Sie sind seit 2010 nicht mehr in Ihr Heimatland Ungarn zurückgekehrt, nachdem Sie sich offen gegen die Regierung von Viktor Orbán gestellt hatten. Vermissen Sie Ungarn?

Meine Heimat fehlt mir sehr. Aber mir ist klar, solange Orbán dort herrscht, solange das ungarische Volk diese Regierung weiter wählt, kann ich nicht zurückkehren. Die Chance, dass ich einen Regierungswechsel noch erlebe, ist klein – ich werde jetzt 70 Jahre alt. Aber mir ist auch klar, dass es viel grössere Probleme gibt auf der Welt als jene in Ungarn.

Die politische Situation hat sich vielerorts nicht zum Guten verändert – in vielen Ländern geschieht ein Rechtsrutsch, eine Extremisierung. Was lösen diese Entwicklungen bei Ihnen aus?

Ich bin, ehrlich gesagt, verzweifelt. Es gibt kein Verständnis, keine Toleranz, keine Diskussionsbereitschaft mehr. Stattdessen gibt es tiefschwarzen Hass. Wir haben zwar noch die Kunst und die Musik, die unser Leben bereichern. Aber wir können nicht vor der Realität flüchten.

Der deutsche Pianist Igor Levit hat jüngst in einem Interview mit der «Zeit» gesagt, dass er sich als Jude in Deutschland fürchtet. Auch, weil sich niemand mit den Jüdinnen und Juden offen solidarisiert, aus Angst, Position zu beziehen. Wie sehen Sie das?

Ich bin auch Jude. Meine Familie hat den Holocaust erlebt, ich habe viele Familienmitglieder verloren. Antisemitismus ist ein altes Lied. Aber er ist heute wieder stärker spürbar. Und ich würde nicht unterscheiden zwischen Antisemitismus und Antizionismus. Es ist unerhört, dass die Existenz des israelischen Staates verneint wird, dass es Länder gibt, die Israel von der Erdoberfläche ausradieren wollen. Nicht dass man Israel nicht kritisieren kann – ich bin vehement gegen die Regierung unter Netanyahu. Aber ich glaube, dass das, was wir im Nahen Osten gerade erleben, ohnehin geschehen wäre. Und so fühlen auch wir Juden und Jüdinnen uns in Europa in Gefahr. Die Politik kann noch lange sagen, Antisemitismus ist nicht okay. Aber was macht man gegen Hunderttausende, die in den europäischen Städten gegen Israel demonstrieren und brüllen «Juden in Gas»?

Kann oder sollte der Kulturbetrieb Ihrer Meinung nach auf politische, gesellschaftliche Aktualitäten reagieren?

Natürlich. Wir leben in einer Zeit, in der mehr und mehr Unordnung herrscht. Eine Fuge von Bach ist das beste Beispiel einer Weltordnung. Da gibt es feste Regeln, und innerhalb dieser Regeln gibt es kleine Freiheiten. Es gibt aber auch Tendenzen im Kulturbetrieb, die ich mit Sorge beobachte.

Welche?

Ich habe viel Zeit in den USA verbracht und beobachtet, dass man dort gerade versucht, die ganze Kulturgeschichte neu zu schreiben – im Namen der Relevanz und Gerechtigkeit. Bach, Mozart, Schubert werden einfach als tote weisse Männer abgestempelt. Das ist furchtbar! Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Ich bin auch gegen Rassismus, für Gleichberechtigung, für alle Freiheiten in Geschlecht und Sexualität. Aber am Ende zählt doch vor allem die Qualität! Das Kunstwerk muss gut sein. Und das wird zurzeit infrage gestellt.

Es lässt sich aber nicht von der Hand weisen, dass die Musikgeschichte von Männern über Männer geschrieben wurde.

Ja, das ist klar, und das hatte damals seine gesellschaftlichen, sozialen Gründe. Aber das kann man heute rückblickend auch nur noch bedingt umschreiben. Was wir tun können, ist, es heute besser zu machen. Die Qualität über alles andere stellen. Dann nämlich kommt die Diversität von selbst.

Sie feiern im Dezember Ihren 70. Geburtstag. Was wünschen Sie sich?

Mein grösster Wunsch ist, Bachs «Kunst der Fuge» aufzuführen. Und das werde ich ein paar Tage nach meinem Geburtstag tun. Sonst bin ich dankbar für mein Leben, es war ein Geschenk, und ich konnte alles machen, was ich wollte. Ausser, dass ich leider nicht das Talent dazu hatte, ein guter Komponist zu werden.

Haben Sie schon mal ans Aufhören gedacht?

Ja. Ich habe andere beobachtet, die nicht aufhören konnten. Umgekehrt habe ich aber auch Menschen erlebt, die im Alter auf ihrem Instrument noch immer besser geworden sind. Zum Beispiel Arthur Rubinstein, er war am Ende seines Lebens viel besser als mit fünfzig. Die klangliche Welt eines alten Menschen ist vergleichbar mit einem guten alten Wein. Ich habe kürzlich einen Rotwein getrunken, der 123 Jahre alt war. Es war unglaublich. Aber ich werde aufpassen, dass ich nicht einen Tag zu lange spiele. Ich möchte nur noch die «Kunst der Fuge» ein paarmal spielen. Wenn ich dann am nächsten Tag aufhören muss, ist das auch gut so.

FR 25. OKT 2024 – 19.30 UHR
REZITAL Sir András Schiff

Sir András Schiff Klavier
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