Niemand von uns ist ein Engel

Niemand von uns ist ein Engel

 

 

Musik auf Plastikflaschen, Folien und Kronkorken – Das Recycling Concerto von Gregor Mayrhofer vereint den Klang unseres Mülls mit dem des klassischen Orchesters. Marie Walkowiak hat mit ihm über Nachhaltigkeit im klassischen Musikbetrieb, die Rolle von Künstler:innen im Kampf gegen den Klimawandel und die Massentauglichkeit von Geräuschen gesprochen.
Gregor Mayrhofer im Gespräch mit Marie Walkowiak

 

Wann ist Ihnen klar geworden: ich muss jetzt etwas zum Thema Nachhaltigkeit und Musik komponieren?

Eigentlich war es eine Entwicklung über Jahre. Es begann während meines Studiums in München und Paris, dass mir als Komponist der Gedanke kam: «Ich kann doch nicht einfach in mein Komponierzimmer gehen, ein paar schöne Melodien schreiben und so tun, als gäbe es keinen Klimawandel und keine Probleme, die für unsere Generation ja sehr physisch bemerkbar werden.» Kunst ist natürlich etwas, das ganz frei ist und nicht nur den Zweck hat, ein aktivistisches Mittel zu sein. Trotzdem war als Komponist für mich eine Frage extrem motivierend: «Wie klingt denn unsere Zeit? Was sind unsere Herausforderungen?».

Das Musikbusiness lebt von Konzerttouren rund um die Welt, für die Instrumente im Orchester werden teils seltene Baumarten abgeholzt. Wie schätzen Sie den ökologischen Fussabdruck des Musikbetriebs ein?

Ohne harte Zahlen vorliegen zu haben, glaube ich, er ist nach wie vor problematisch hoch. All diese Fragen, wie ein ganzes Orchester reist, Aspekte der Abholzung von besonderen, seltenen Hölzern für Instrumente … Das sind Dinge, bei denen ich möchte“, dass wir uns als Musiker:innen nicht in unseren Elfenbeinturm zurückziehen und sagen: «Wir sind Künstler:innen, wir sind von allem ausgenommen. Das müssen die Politiker:innen klären oder die Aktivist:innen oder die Organisator:innen.» Sondern, dass wir erkennen, dass wir auch einen Teil der Verantwortung tragen und schauen müssen, wo wir bessere Lösungen finden können.

Das ist oft gar nicht so einfach. Als Spitzenorchester kann man nicht so einfach sagen: «Okay, wir reisen jetzt nicht mehr.»

Das ist mir völlig bewusst. In der Realität funktioniert das nicht. Ich glaube, wir merken bei fast allen Aspekten, egal ob Nahrung, Produktion oder Mobilität, dass wir überall mit Nachdruck und so schnell wie möglich bessere Lösungen finden müssen. Das heisst trotzdem, dass man sich mal verzeihen muss, wenn man das selbst nicht perfekt schafft. Im Umkehrschluss bedeutet das aber nicht: «Okay, die anderen sind nicht perfekt. Also muss ich ja auch nichts machen.» Diesen Gedanken finde ich manchmal sehr unfair und problematisch. Jedem von uns ist bewusst, dass niemand von uns ein Engel ist. Wir sind eingegliedert in einem gesellschaftlichen Gesamtsystem, so dass unsere einzelne Handlung oft nicht gleich unmittelbar spürbar wird. Das entbindet uns aber nicht von der Verantwortung, immer wieder neuen Anlauf zu nehmen und zu sagen: Es muss sich verbessern. Schneller und weiter. Nicht im Sinne von höher, schneller, weiter (lacht), sondern im Sinne von: Wir müssen unseren Umbau in vielerlei Hinsicht vorantreiben.

In welcher Rolle sehen Sie sich selbst als Komponist, wenn es um Nachhaltigkeit in klassischer Musik geht?

«Klassik» ist für mich nicht gleichbedeutend mit der Annahme, alles muss ganz alt sein und eine ganz spezielle Ästhetik haben, sondern für mich heisst Klassik, dass die Musik etwas von unserer Zeit erzählt, den ganz besonderen Klang unserer Zeit findet und die Themen unserer Zeit irgendwie adressiert. Nachhaltigkeit bedeutet natürlich all diese Umweltthemen, die wir jetzt hier besprechen und an die man immer sofort denkt, wenn man Recycling hört, aber ich finde, Nachhaltigkeit bedeutet auch, etwas zu schaffen, was hoffentlich einen längeren Zeitraum überdauert. Einerseits können wir ganz konkret, jeder bei sich, Veränderung bewirken, durch weniger Flugreisen oder Fleischkonsum und hoffentlich dadurch auch unsere Mitmenschen dazu inspirieren, dass Verzicht nichts Schlimmes sein muss. Andererseits hoffe ich, Kunstwerke zu schaffen, die die Leute abholen und ihnen auf einer sinnlichen und tieferen Ebene etwas geben.

Also wollen Sie vor allem über die Musik an sich etwas bewirken, einfach über die öffentliche Wahrnehmung?

Ja, neben der grossen idealistischen Botschaft und den konkreten Schritten zählt auch, was als gesellschaftliche Normalität anerkannt wird. Ich glaube, an der Stelle können die Künste einen grossen Beitrag leisten, dass Themen, die vor ein paar Jahren vielleicht nur Nischenthemen für Spezialist:innen waren, uns jetzt alle interessieren sollten. Und dass man versteht: Wenn es uns alle interessiert und wir alle einen Beitrag leisten, können wir enorm viel verändern.

Glauben Sie, dass Künstler:innen das besser können als Politiker:innen?

Man braucht beides, aber ich glaube, dass manchmal der Aspekt der Emotion und der künstlerischen Sinnlichkeit weit stärker wirken kann als eine rationale Erkenntnis. Wir brauchen letztere unbedingt, weil die Forscher:innen die sind, die berechnen können, was wir tun müssen, in welcher Form und Intensität wir es tun müssen und so weiter. Aber ob man sein Verhalten ändert – so habe ich das zumindest bei mir und bei ganz vielen anderen Menschen erlebt – wird oft durch einen emotionalen Wandel ausgelöst. Ich habe noch bei keinem Durchlesen einer Statistik einen solchen Drang verspürt, etwas in meinem Leben zu verändern, wie ich es zum Beispiel hatte, als ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Mahler-Sinfonie gehört habe.

Stimmt. Musik kann so viel in uns bewirken und verändern, wenn sie Emotionen in uns weckt.

Oder wenn man merkt, wie tief sie uns eigentlich berühren kann. Das war für mich eigentlich auch das entscheidende Erlebnis, warum ich Musiker werden wollte. Stücke wie Mahlers Auferstehungssymphonie, Tschaikowskys 6. Sinfonie, Strawinskys «Sacre du Printemps» haben etwas in mir bewegt. Da kann Musik eine Faszination ausüben und vermitteln, die hoffentlich Leute zusätzlich zu den enorm wichtigen wissenschaftlichen Facts und der politischen Arbeit inspirieren kann. Nichtsdestotrotz braucht es die bestimmten Stellschrauben von politischer Seite, von der Unternehmensseite, damit sich wirklich die grossen Hebel bewegen.

Mit klassischer Musik erreicht man nicht die breite Masse. Inwieweit kann so ein Konzert dann so viel gesellschaftlichen Einfluss haben?

Natürlich gibt es andere Kanäle, die weit grössere Adressatengruppen erreichen. Ich glaube aber, dass man einfach an ganz vielen Ecken und Enden anfangen muss und sich das auch nicht nur über die Masse definiert. Klar, die breite Masse erreicht man, wenn man einen Popsong über Recycling schreibt. Und wenn das einer der grossen Stars macht, dann bekommen die natürlich eine Million Klicks. Aber wir wollen ja auch ganz unterschiedliche Publikumsschichten erreichen und auch Hörer:innen inspirieren, die vielleicht mit der Müllproblematik erst mal nichts zu tun haben wollen.

Es gibt ja schon diverse andere Projekte, die Müll auf die klassische Bühne bringen. Zum Beispiel die Klangwand von Christoph Sietzen, der darauf eine Komposition von Georg Friedrich Haas vertont hat. Inwieweit haben Sie diese Projekte beeinflusst?

2019/2020, als ich das Recycling Concert konzipiert habe, gab es noch wenig Projekte wie diese. Bei den Schlagzeuger:innen werden verschiedene Objekte als Klangobjekte natürlich schon länger eingesetzt – also zum Beispiel bei John Cage in den 60er-Jahren oder Stomp. Das hat mich insofern beeinflusst, als dass ich dachte: Es gibt so viele Müllperkussion-Rhythmusstücke, aber ich kenne kein Stück, wo wirklich Melodien auf Müll gespielt werden. Das Haas-Stück ist da ein Spezialfall, weil da gibt’s natürlich auch melodische Aspekte. Aber ich habe einfach versucht, etwas Eigenes zu finden, wo das Spektrum der Klänge breit ist. Wir Komponist:innen sind oft Spezialnerds, die verrücktesten Klänge sind die spannendsten (lacht). Aber mir war es wichtig, dass man eben nicht nur strange Geräusche hat. Es soll ja auch die Leute abholen, die nicht auf neue Musik spezialisiert sind.

 

FR 30. AUG

STADTHAUS – 17.00 Uhr
Upcycling-Workshop von MYBLUEPLANET

STADTHAUS – 18.00 UHR
Alu, Plastik und Altglas
DAS RECYCLING CONCERTO

Musikkollegium Winterthur
Gregor A. Mayrhofer Leitung
Vivi Vassileva Schlagzeug

Charles Ives «The Unanswered Question»
Gregor A. Mayrhofer Recycling Concerto

PAUSE

Felix Mendelssohn Bartholdy Ouvertüre «Die Hebriden»
Bedřich Smetana «Die Moldau»
Charles Ives «The Unanswered Question»

STADTHAUS FOYER
Begleitausstellung der Lernenden der Berufsschule Recycling Ausbildung Schweiz R-Suisse.

 

Eine Initiative der Zürcher Kantonalbank anlässlich des Swiss Green Economy Symposium, in Zusammenarbeit mit dem Verband Recycling-Ausbildung Schweiz, R-Suisse und MYBLUEPLANET.

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