DER REINE KLANG ALS AKUSTISCHES PHÄNOMEN

Keine Musik ohne Klang

Kein anderes klassisches Sinfonieorchester der Schweiz widmet sich dem zeitgenössischen Musikschaffen so selbstverständlich wie das Musikkollegium Winterthur. Wir möchten Erwachsenen, die Freude und Interesse an Musik haben, einen anregenden Zugang zu den verschiedensten Klangformen und -farben vermitteln.

Ein Höhepunkt dieser Saison steht unter unserem Saisonthema «Werden» und ist das Konzert «Les Espaces acoustiques». Gérard Grisey erforscht kompositorisch den Klang an sich. Klangspektren verschiedener Art – daher auch die Stilbezeichnung «Spektrale Musik» – werden entfaltet. Von der reinen Obertonreihe bis zur geräuschhaften Verdichtung von Tönen treffen verschiedenste Klanggestalten aufeinander und durchdringen sich. Einige davon werden auch in der Soirée vom Dienstag, 21. März 2023, die das Konservatorium Winterthur durchführt, unter die Lupe genommen.

Keine Musik ohne Klang. Doch der reine Klang als akustisches Phä­nomen rückte erst in jüngerer Zeit in den Fokus von Komponistin­nen und Komponisten. Die sogenannten «Impressionisten» wie De­bussy experimentierten mit Klangfarben und Klangflächen und erhoben diese zum strukturbildenden Prinzip. Für das 20. Jahrhun­dert sollte diese Entwicklung in ganz verschiedenen Formen weg­weisend sein: Ebenfalls in Frankreich gehörten Tristan Murail und Gérard Grisey sowie weitere Mitglieder der Gruppe «L’Itinéraire» ab den 1970er Jahren zu den Pionieren der sogenannten «Spektral­musik». Hier stellen die stets zusätzlich zum Grundton erklingen­den Obertöne das Tonmaterial dar.

In «Les Espaces acoustiques» erlebt das Publikum die von Stück zu Stück wachsende Besetzung, von der Solo-Bratsche des «Prologue» über aparte Ensembles bis zum grossen Orchester der Teile V und VI (welche die Winterthurer Verhältnisse sprengen würden). Zudem bildete das «Werden» eines Tons oder eines Formverlaufs ein Hauptinteresse von Gérard Grisey, dem vor einem Vierteljahrhundert unerwartet verstorbenen Komponisten. Seine Beschäftigung mit der spektralen Beschaffenheit von Klängen hat einer ganzen Strömung der Neuen Musik ihren Namen gegeben. «Partiels» bietet ein schönes Beispiel für solche «Spektralmusik». Posaune und Kontrabass spielen ein tiefes «E», die übrigen Instrumente tragen Obertöne bei und betreiben so Klangsynthese, wie es die elektronische Musik seit der Jahrhundertmitte tut. Statisch, fast meditativ muten diese Klänge an, jedoch gestaltet Grisey meisterhaft schleichende Verläufe, die uns erschrecken lassen, sobald wir merken, dass unwiderruflich Neues entstanden ist. Naturhaftes «Werden» trifft sich mit hoher Konstruktivität zu einem unvergleichlichen Hörerlebnis.

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