«Ich kann wohl kaum erzählen, dass eine Schweizerin das Zelt erfunden hat.»

Gewisse Geschichten sind etwas aufwendiger zu erzählen. So etwa das Märchen über die junge Frau Anna: Drei Orchester, drei Komponist:innen, eine Dirigentin und eine Märchenerzählerin spannen hierfür zusammen. Über die Entstehung des Projekts «Legenden, Leggende, Légendes».

Ein Bericht von Martina Hunziker

Es war einmal eine junge Frau namens Anna, die sich zu Fuss von Lugano nach Lausanne aufmachte. Das sind 309 Kilometer. Man folgt dem Ticino flussaufwärts bis zu seiner Quelle oberhalb von Bedretto, steigt über den Nufenenpass hinunter ins Goms und läuft von da an alles entlang der Rhone. Am Genfersee angelangt sind es noch 30 Kilometer.
Einige Jahre später lief dieselbe Frau in Lausanne los und ging bis nach Winterthur. Das sind 220 Kilometer, grösstenteils durchs flache Mittelland, am Murtensee vorbei und der Aare folgend bis nach Solothurn. Weiter geht es am Fusse des Aargauer Juras entlang und schliesslich nördlich von Zürich vorbei bis nach Winterthur.
Wie es dazu kam, dass Anna das Tessin verliess und sich später, obschon sie längst in der Westschweiz heimisch geworden war, auf den Weg in die Eulachstadt begab, soll nicht an dieser Stelle verraten werden. Denn Annas Geschichte gibt es im Mai 2025 in den drei Städten Lugano, Lausanne und Winterthur live zu hören.
Anna ist die Protagonistin des Projekts «Legenden, Leggende, Légendes», welches das Musikkollegium Winterthur in Zusammenarbeit mit dem Orchestra della Svizzera italiana (OSI) und dem Orchestre de Chambre de Lausanne (OCL) realisiert. Für ihre Geschichte wurden eine Vielzahl von Menschen aktiv: drei Orchester, drei Komponist:innen, eine Dirigentin. Und: eine Märchenerzählerin.

«Die Schweizer Profi-Orchester sind auf Trab.»

Zu der Kooperation zwischen den drei Orchestern kam es auf Initiative von orchester.ch, dem Dachverband der Schweizerischen Berufsorchester. 14 professionelle Orchester der Schweiz sind Teil dieses Verbands, der einerseits als Vernetzungsorgan innerhalb der Mitglieder wirkt und andererseits die nationale und internationale Lobbyarbeit für das Schweizer Orchesterwesen macht.
«Die Schweizer Profi-Orchester sind sehr auf Trab. Das ist toll», sagt Toni Krein, Präsident des Verbands orchester.ch, «aber sie arbeiten halt auch sehr individuell». Um den Institutionen auch mal einen Anlass für einen engeren Austausch zu geben, lancierte die Dachorganisation gemeinsam mit ihren Mitgliedern deshalb das Projekt «zusammen, insieme, ensemble».
Vertreter:innen aus den teilnehmenden Orchestern haben sich dort zu Workshops getroffen und einen gemeinsamen konzeptuellen Rahmen entwickelt, der in den Konzertsälen schweizweit umsetzbar sein würde. Das verbindende Element aller einzelnen Projekte sollte das Engagement für zeitgenössische Musik werden. Hierfür hat jedes der beteiligten Orchester einen Auftrag an eine:n in der Schweiz wohnhafte: n Komponist:in vergeben. Um die neue Musik auch einem breiten Publikum zugänglich zu machen, sollte jedes der neu entstehenden Werke auch mit entsprechenden Vermittlungsaktivitäten begleitet werden.

«Eine nie gehabte Zusammenarbeit»

Zehn Schweizer Profiorchester haben sich dafür entschieden, an diesem Projekt teilzunehmen. Sie machten sich auf, um auf dieser Basis ihre eigenen Formate zu entwickeln. Die Projekte werden alle im Mai 2025 live zu erleben sein. «Das Ganze ist zu einem vielfarbigen Kaleidoskop aus sehr unterschiedlichen Elementen geworden », sagt Krein. Er freut sich, wie dieses übergreifende Projekt «zusammen, insieme, ensemble » zu leben begonnen hat. «Das ist eine bisher noch nie gehabte Zusammenarbeit der Orchester der Schweiz.»Innerhalb dieses Rahmens entschieden sich die drei Orchester in Winterthur, Lausanne und Lugano, einen gemeinsamen Weg einzuschlagen. Und hier kommen wir zurück zu Anna. Ihre Geschichte ist der rote Faden in dieser Kooperation. Unter dem Titel «Legenden, Leggende, Légendes » wird Annas Reise in Wort und Musik erzählt. Jeder der drei Lebensabschnitte von Anna wird anders klingen, denn die Kompositionsaufträge gingen an drei verschiedene Komponist: innen: Maria Bonzanigo vertont Annas Kindheit, Valentin Villard ihre Jugend und Blaise Ubaldini das Erwachsenenleben.

Märchen sind allgemeingültig

Und wer war oder ist nun diese Anna? Diese Frage kann niemand besser beantworten als Claire Heuwekemeijer. Sie hat die Geschichte von Anna zusammengetragen und wird sie in den drei Städten erzählen.
Heuwekemeijer ist eine Märchenerzählerin aus Leidenschaft. «Meine Faszination für Märchen fing in meiner frühen Kindheit an», erzählt die in Lausanne wohnhafte Pädagogin. Als Kind und auch später als Jugendliche habe sie Bibliotheken nach Märchenbüchern durchforstet und bald auch damit begonnen, die Geschichten selbst zu erzählen. «Märchen sind etwas Besonderes, weil sie von einer Person zur anderen weitergegeben wurden, über Jahrhunderte und über Grenzen hinweg.» Damit haben sie so eine Art Allgemeingültigkeit, sagt Heuwekemeijer: «Mir scheint, dass sie von all den Mündern, Ohren und Seelen angereichert wurden, durch die sie gegangen sind».
Claire Heuwekemeijers Fundus von Geschichten, Erzählungen und Märchen ist gross. Die Geschichte von Anna sollte in allen drei Regionen spielen – dem Tessin, der Westschweiz und der Nordostschweiz – und so einen grossen Bogen zwischen den Orchestern und ihrem Publikum schlagen. Das bedingte, dass die Erzählerin auch ein Gespür für die Orte hatte, in denen die Geschichte spielen wird.
Das Tessin kenne sie gut, sagt Heuwekemeijer, die Romandie als Ort, wo ihr Lebensmittelpunkt liegt, sowieso. Winterthur hingegen sei ihr nicht so bekannt gewesen. Also reiste sie für ein Wochenende in die Stadt in der Nordostschweiz. «Prägend war für mich dieses Grün in der Stadt und das Umland, durch welches die liebliche Töss fliesst. Ich spürte hier eine Sanftheit des Lebens», sagt sie rückblickend.

Lokales Handwerk gesucht

Heuwekemeijer hat sämtliche Sagen und Legenden der Schweiz durchforstet, um einen roten Faden für ihre Erzählung zu finden. Von keiner der hiesigen Geschichten war sie überzeugt. «Ich hatte den Eindruck, dass unser eigenes Erzählgut eher hart ist und stark moralisiert. Ich mag es aber, wenn die Geschichten sich öffnen, auf andere Perspektiven hinweisen.»
So kam es, dass sich Heuwekemeijer für die Geschichte von Anna schliesslich für eine Erzählung aus dem Mittleren Osten entschied. Darin geht es um ein junges Mädchen, das lernt, wie man Heringe, Seile und Segeltuch herstellt. «Weil das Mädchen damit aber Zelte herstellt, dachte ich, das muss ich anpassen. Ich kann ja nicht erzählen, dass eine Schweizerin das Zelt erfunden hat», sagt Heuwekemeijer lachend.
Also suchte die Märchenerzählerin nach lokaler Handwerkskunst – und sie wurde fündig. Welches Handwerk Anna in «Legenden, Leggende, Légendes» schliesslich erlernt, dazu sagt Heuwekemeijer nur so viel: «Die Geschichte handelt von den Bindungen, die wir knüpfen und die in uns weiterleben, selbst wenn sie sich irgendwann lösen».

Im Dienst der Geschichte

Der Erzähltext entstand im Austausch mit den drei Komponist:innen. Heuwekemeijer gesteht, dass es eine herausfordernde Aufgabe gewesen sei, eine Geschichte zu Musik zu schreiben, während die Musik selbst ja auch erst im Entstehen war. Als die Handlung in ihren groben Zügen stand, trat die Erzählerin in Kontakt mit den Musikschaffenden. In diesen Gesprächen entstanden auch Ideen, wie der Text zur Musik gut funktionieren könnte, etwa mit besonderen rhythmischen Elementen oder Wiederholungen. Jedes Kapitel von Annas Leben wird denn nicht nur unterschiedlich klingen, sondern auch mit anderen Erzähltechniken bestückt sein. «Das funktionierte wunderbar. Wir alle haben den Wunsch, zu teilen und sich in den Dienst der Geschichte zu stellen.» Wie das Ganze dann wirklich klingen wird, werden jedoch alle Beteiligten erst mit den ersten Orchesterproben erfahren. «Ich bin sehr neugierig!», so Heuwekemeijer.
Annas Geschichte soll Menschen jeden Alters ansprechen. Heuwekemeijer wird sie in Lugano auf Italienisch, in Lausanne auf Französisch und in Winterthur auf Deutsch erzählen. «Das wird eine ziemliche Herausforderung», sagt sie. Sie sei sich aber sicher, dass die Geschichte zu allen sprechen werde. «Ein Märchen arbeitet mit Dingen, die in uns sind, mit Emotionen und Erinnerungen, mit den erlebten Momenten des Glücks und der Trauer.» Das betreffe uns in jedem Alter, so Claire Heuwekemeijer.
Und wirklich gute Märchen machen schliesslich vor keinen Grenzen Halt – egal, ob da noch Alpenpässe, Kantonsgrenzen oder sprachliche Hürden zu überwinden sind.

 

Sa 17. Mai 2025
Stadthaus – 17.00 Uhr

LEGENDEN, LEGGENDE, LÉGENDES

Musikkollegium Winterthur
Barbara Dragan Leitung
Claire Heuwekemeijer Geschichte und Erzählerin

Musik von Blaise Ubaldini, Maria Bonzanigo und
Valentin Villard