Call the Midwife
Call the Midwife
Hallo Vimbayi! Für das Konzert in Winterthur hast du ein Programm zusammengestellt, das aus Werken von Beethoven, Dvořák, Scelsi und Fujikura besteht. Wie kam es zu dieser Auswahl?
Das Konzert von Dai Fujikura stand bereits fest, ich habe dann den Rest des Programms danach ausgerichtet. Dabei dreht sich alles um den Ton F. Mit diesem beginnt Scelsi seinen ersten Satz, der sehr schwebend und weitschweifend ist. Ich lasse ihn übergehen in den grossen f‑Moll‑Akkord von Beethovens «Egmont», in das Fortissimo des Orchesters. Dort geht eine neue Welt auf. Das ist eine grossartige Eröffnung, die auf das Stück von Fujikura vorbereitet. Und von Dvořák bin ich in letzter Zeit einfach besessen: Seine achte Sinfonie ist unglaublich charmant und schlicht. Am Anfang ist sie sehr melancholisch, aber dann findet sie Freude in einer munteren Melodie. Mit der wollte ich das Konzert gerne enden lassen.
Das Doppelkonzert von Dai Fujikura war eine Auftragsarbeit für Patricia Kopatchinskaja und Claire Chase. Wie macht sich das in der Musik bemerkbar?
Beide Musikerinnen haben eine starke Persönlichkeit, das spürt man in dem Konzert. Die Stimmen von Geige und Flöte sind sehr verwoben. Manchmal kann man nicht unterscheiden, wer eigentlich wer ist. Trotzdem bleiben sie immer individuell, denn aus den Stimmen der Instrumente klingt auch immer der Charakter der jeweiligen Musikerin heraus. Beim Dirigieren versuche ich, Raum für die beiden zu schaffen. Dafür überlege ich: Was kann ich tun, damit Patricia noch mehr Patricia sein kann? Und Claire noch mehr Claire?
Wie ist es denn, mit Musiker:innen zu arbeiten, denen ein Stück quasi auf den Leib geschneidert ist?
Das ist die beste Voraussetzung, weil man dann ganz tief in das Stück eintauchen kann. Normalerweise fängt man bei null an. Beim Versuch, zum Kern vorzudringen, kratzt man dann nur an der Oberfläche. Die Zusammenarbeit mit den beiden Musikerinnen aber gibt mir die Möglichkeit, die wahre Essenz des Stücks ans Licht zu bringen.
Du kennst Dai Fujikura vom International Contemporary Ensemble in New York, ihr arbeitet häufig zusammen. Was macht die Zusammenarbeit mit ihm so besonders?
Dai weiss immer genau, was er will. Er hat konkrete Vorstellungen davon, wie seine Klangwelten aussehen sollen. Aber er ist auch offen für die Ideen der Musiker:innen und Dirigent:innen, weil sie seine Welten noch farbenfroher machen. Er ist ein echter Kollaborateur und es ist immer sehr aufregend, mit ihm zusammenzuarbeiten. Man weiss nie, was passieren wird: Er findet immer wieder neue Ideen.
Wie würdest du seinen Stil beschreiben?
Er ist sehr eklektisch. Das ist das Schöne an Dais Arbeit: In jedem seiner Stücke erschafft er eine einzigartige Klangwelt, in der er alle Facetten seines Könnens zeigt. Sie alle haben einen typischen Fujikura‑Sound und beziehen sich auf sein gesamtes Repertoire; aber jedes Stück besitzt auch eine eigene Aura, eine eigene Logik. Die muss man verstehen, wenn man seine Stücke interpretieren will.
Wie ist es für dich, ein Stück zum ersten Mal aufzuführen?
Das macht einen grossen Teil meiner Arbeit aus. Ich liebe es, etwas zum Leben zu erwecken, das noch nie zuvor gehört worden ist. Das Doppelkonzert für Patricia und Claire wurde bereits in Hamburg uraufgeführt, es ist also nicht brandneu. Die beiden haben schon Erfahrungen damit gesammelt, auf die ich aufbauen kann, um dem Stück noch mehr Leben einzuhauchen. Das ist ein entscheidender Punkt: Ich stelle es dem Publikum nicht nur vor, sondern will auch neue Dinge darin finden.
Wie genau kann man sich das vorstellen?
Schon früh in meinem musikalischen Leben habe ich mich dafür begeistern können, etwas Neues in die Welt zu bringen. Wenn ich Komponist:innen bei der Uraufführung ihrer Werke unterstütze, ist das, als sei ich eine Hebamme: Ich kann bei der Geburt der Dinge helfen, sie mit auf die Welt bringen. Es gibt einen Teil bei diesem Prozess, der beängstigend ist, weil man nie genau wissen kann, worauf man sich eingelassen hat. Aber wenn die Musik dann lebendig wird, kann man nicht anders, als sich in sie zu verlieben.
Wann und wie passiert dieses «Verlieben»?
Das passiert in der Zeit, die ich allein mit dem Stück verbringe und in der ich die Partitur studiere. Dabei verliebe ich mich in jedes Detail – sogar in seine Unschärfen.
Und was machst du, wenn du dich nicht verliebst? Wenn ein Stück besonders herausfordernd ist?
In die Stücke, mit denen ich mich schwertue, verliebe ich mich meist noch mehr. Denn dann bin ich gezwungen, noch tiefer zu graben, um unter die Oberfläche zu kommen. Das passiert mir oft bei noch lebenden Komponist:innen: Ich habe immer so viele Fragen und versuche zu verstehen, welche Absichten sie mit ihren Werken verfolgen.
Hörst du dir zur Vorbereitung Auf- nahmen an?
Niemals. Ich benutze mein inneres Ohr, um herauszufinden, wie die Musik klingt. Ich bin der Meinung, dass die Vorstellungskraft so viel weiter reicht als das, was eine Aufnahme abdecken kann. Denn die Aufnahme gibt mir nur eine Interpretation eines Werks. In meiner Vorstellung aber gibt es unendlich viele Ideen. Und es ist doch viel interessanter, durch diese Vielfalt zu blättern und die passenden Interpretationen selbst herauszusuchen.
Nachdem du die Partitur einstudiert hast, folgen die Proben mit dem Orchester. Wie gibst du deine Liebe für die Stücke weiter?
Das ist ein Prozess, den ich liebe und der sich meiner Meinung nach immer auszahlt. Wenn ich die Partituren studiere, versuche ich, die Bedeutung der Musik zu verstehen. Gleichzeitig versuche ich, eine Sprache zu finden, in der ich die Musik ausdrücken kann – damit ich die Kolleg:innen dazu inspirieren kann, sie so zu spielen, wie ich sie mir vorstelle. Ich denke da immer an Carlos Kleiber, meinen Lieblingsdirigenten. Es gibt ein Video von ihm, in dem er «Der Freischütz» mit den Wiener Philharmonikern probt. Auf einmal hält er inne und sagt: «Meine Herren, für die Dauer dieses Stücks bitte ich Sie: Sie müssen an Gespenster glauben». Alle lachen, aber als sie das Stück dann nochmal spielen, klingt es ganz anders als zuvor.
Dann spielt auch Sprache eine wichtige Rolle?
Ich bin ein internationaler Dirigent und muss die Menschen in einer fremden Sprache überzeugen. Das ist eine ganz andere Arbeit, als wenn ich meine Muttersprache benutzen würde. Wo wir gerade bei Gespenstern waren – an die würde ich vielleicht im Englischen denken, nicht aber in meiner Muttersprache. Wir sprechen eigentlich nicht über Geister. Wenn ich eine Partitur studiere, versuche ich deshalb, nicht allzu viel über Sprache nachzudenken. Erst wenn die Proben näher rücken, fange ich an, die passenden Wörter zu suchen.
Wovon musst du deine Kolleg:innen am meisten überzeugen?
Die Musiker:innen kennen nur ihre eigene Stimme, nicht aber das ganze Stück. Ich muss ihnen zeigen, wie schön das Werk in seiner Gesamtheit ist. Und dann muss ich sie natürlich überzeugen, dass sie das Publikum überzeugen können. Das ist harte Arbeit, denn es erfordert Leidenschaft, Engagement und Hingabe zu diesem Stück.
Und wenn das Konzert dann stattfindet: Wie überträgt sich eure Hingabe auf das Publikum?
Da kann ich eigentlich nicht mehr viel tun: Die eigentliche Arbeit findet in der Probe statt. Es geht für mich nur noch darum, die Dinge miteinander zu verbinden und während der Aufführung präsent zu bleiben. Und ich bin sowieso immer so sehr in die Stücke verliebt, dass ich denke: Sie müssen sie einfach lieben!
Und gibt es eine Stelle im Konzert von Fujikura, die du besonders magst?
Den Anfang, obwohl ich da noch nicht dirigiere. In der Partitur habe ich mir dort notiert: «Bleib wach!» Denn er ist so fesselnd, so hypnotisierend, dass ich mich manchmal selbst ans Dirigieren erinnern muss, wenn ich den Solistinnen zuhöre.
Leider musste Patricia Kopatchinskaja alle Konzerte im Januar 2025 aus persönlichen Gründen absagen. An ihrer Stelle spielt Leila Josefowicz.